Die Eskalation in Stuttgart ist nicht einfach „passiert“

Falls sich jemand fragt, warum das gestern bei der Stuttgart21-Demo so geknallt hat: Nein, ich bin nicht der Meinung, dass das „passiert“ ist, ich denke, dass das „gewollt“ war: Strategisch war es schlicht der richtige Zeitpunkt, von Deeskalation auf Eskalation zu wechseln, und ich unterstelle, dass das genau deshalb zu diesem Zeitpunkt erfolgte.

Eine Eskalation bringt nichts, wenn man sie nur „ein bisschen“ macht, „ein bisschen“ wäre im Gegenteil ein Indiz für ein Entgleiten der Situation, das kann passieren, hätten aber alle Beteiligten so eigentlich nicht gewollt. Hier gab es aber nunmal einen deutlichen Sprung, was IMO eine bewusste Entscheidung vorraussetzt und ich das, was da gestern passierte, als genau so „Gewollt“ anzusehen habe. Wenn eine Eskalation „wirken“ soll, muss sie einen deutlichen Unterschied zu „vorher“ haben, um eine Schockwirkung zu erzielen. Und damit Angst, Unsicherheit und über Ohnmacht letztlich auch Resignation zu verursachen.

Der Zeitpunkt ist deshalb „gut“, weil zu befürchten stand, dass es „schlimmer“ wird, wenn nicht jetzt „gestoppt“ wird. Man hatte lange gewartet (und gehofft), dass die Demo-Lust vor allem auch mit Anbruch des Herbstes mit Regen und Kälte von alleine abflaut und man im Herbst halbwegs ohne Gegenwehr mit der Arbeit vor Ort beginnen könnte. Das Gegenteil war der Fall und die Tendenz machte wenig „Hoffnung“, dass die Arbeit ungestört durchgezogen werden könnte.

Die Message an den gutbürgerlichen Normalschwaben wurde deshalb deutlich gesetzt: wer jetzt noch zu einer Demo geht kann sich seiner körperlichen Unversehrtheit nicht sicher sein.

Der Innenminister sagte das dann ja auch hinterher ebenso deutlich, gerichtet an Kinder, Mütter, Eltern: Wer zu einer Demo geht und dort verletzt wird ist selber Schuld wenn er auf’s Maul kriegt, es ist auch nicht verhandel- geschweige denn verhinderbar, denn es ist eine Zwangsläufigkeit konstruiert, denn man „müsse“ ja „das Recht mit allen Mitteln durchsetzen“ – Alternativlosigkeit und so, nicht dass man das so wollte, aber es ginge ja nicht anders, da ist dann auch niemand „Schuld“ außer denen, die unvorsichtigerweise dahin gehen, denn man habe ja „keine Wahl“, kennt man ja.

Es ging also schlicht um deutliche und wirksame Abschreckung für die Zukunft unter Inkaufnahme von ein paar Tagen schlechter Presse.

Die Strategie ging in den 80gern schon mal auf, warum sollte sie heute nicht nochmal funktionieren, denkt man sich da wohl. Es steht zu Befürchten, dass die Strategie auch diesmal wieder aufgeht.

Andererseits: damals gabs weder Internet, noch Digitalfotoapparate, Internethandys, Taschenkameras usw. usf. – die Frage ist nur: sind diese Techniken schon so weit in der Bevölkerung angekommen, dass sie medial und kommunikativ einen Unterschied zu damals bewirken können?

P.S.: Die mal wieder deutlich gemachte Priorisierung von Eigentumsrechten (das „Recht das man durchsetzen muss“ ist ja ein solches, es geht ja darum, über den Bauplatz zu verfügen) über Grundrechte wie körperliche Unversehrtheit oder Demonstrations- und Meinungsfreiheit wäre ein eigenes, anderes Thema für sich. Zeit müsste man haben…

P.P.S.: Anlass für diesen Artikel war übrigens Don Dahlmanns Blogeintrag zur Frage nach der Verhältnismäßigkeit


12 Gedanken zu „Die Eskalation in Stuttgart ist nicht einfach „passiert“

  1. Danke sven, da stimme ich Dir voll und ganz zu. Auch heute Nacht auf dem Live stream. Wie kurz bevor die Bäume ausgerissen wurden, plötzlich Polizei martialisch mit Schild und Gasmaske auftrat!
    Ich bin wieder an dem Punkt. Friedliche Demos werden verlacht und einfach weggeschoben. Was bleibt dem Bürger.
    Asymmetrische Kriegsführung, offene Gewalt?

  2. Das erste Mal wurde die Strategie in den 60ern angewandt, als erst einmal harmlose Studenten zu gewalttätigen Intellektuellen umgedichtet, dann von externen „Sicherheits“kräften verprügelt, zu guter Letzt durch die Presse zu Staatsfeinden erklärt wurden. Das Ergebnis war echter Terrorismus [noch dazu der blödesten Sorte: Wohlstandskinder zerstören irgendein böses „System“].

    Dann blieb es fast ein Jahrzehnt ruhig – mit Ausnahme der RAF, deren Gewalt mit zu der Ruhe führte. Tja, bis 1977 die Proteste gegen die Atompolitik eskaliert wurde. Während damit tatsächlich auch die Demonstranten vor Ort gewalttätiger wurden, klappte das bei den Anti-Raketen- und Friedensdemos nicht. Zwar wurden hier dieselben Taktiken eingesetzt wie in Stuttgart, überfallartig ging die Polizei nach Einkesselung mit Wasserwerfen, Tränengas und Schlagstöcken gegen friedliche Kinder, Jugendliche und so fort vor. Die verdammten Pazifisten hielten sich aber nicht ans Drehbuch, wir blieben friedlich.*

    Es gibt noch eine Parallele zwischen der damaligen AKW-Politik und dem Käse in Stuttgart heute: der Anlass tritt in den Hintergrund, weil sich herausstellt, dass die Methoden hinter den Entscheidungen das eigentliche Problem sind [siehe auch: http://www.zeit.de/2010/39/Bahnprojekt-Stuttgart-21?page=all ]

    Was einige vermeintliche Gutsherren sich in Stuttgart leisten, diskreditiert einen womöglich guten Verkehrsplan. Und ist ein Anschlag auf die Demokratie, der zu Aufhetzung und zu einem echten Schaden führen kann.

    *Ich war dabei, war einer der Demonstranten.

  3. oha, wieder was gelernt 😉

    dass es schon in den 80ern oder sogar 60ern losging wusste ich nicht.

    kann nichts anderes als zustimmen. kann man nicht mehr seine meinung zeigen?

  4. Jupp, auch mein Eindruck (es sollte knallen); zeitlgleich Gorleben-Erkundung wieder aufgenommen und (anti-)deutschgtümmelei aufm gleichen Termin…

    Die längst überfällige Kennzeichnungspflicht für ansonsten vermummte Beamte könnte in
    Zusammenhang mit filmender Öffentlichkeit für mehr Besonnenheit und Deeskalierung sorgen.
    So liesse sich entschlossener demokratischer Widerstand ohne die Notwendigkeit, auf Gewalt auf Gewalt reagieren, realisieren.
    Klar muss Mensch sich bei den Bildern und aktuellem Regierungsvehalten darüber sein, dass
    dies die Seite ist, die mit den lieben Kindern auf der sonnigen Wiese unter zig Kameras stattfindet, ~ 300 stationär zu Behandelnde, 2-3 fach versuchte Tötung mit Wasserwerfer
    Forsetzung der Arbeiten trotz mindestens 10 ernshaft Verletzter, null Tagesordnung im Landtag.
    Wie das aussieht, wenn friedlich Mensch (nicht kauernd Kind) sich gegen Pfeffergas womöglich mit Händen und Füssen wehrt und niemand filmt, die Schuldigen nicht zu identifizieren sind, es zu einem Handgemenge mit gewissem Ausgang kommt.. Prellungen, Brüche, Strafanzeige +Aussage dreier Kollegen, bedarf wenig Phantasie.
    Die Polizei ist weder Entscheidungsträger der zugrundeliegenden Proteste, noch Soldat, der ansonsten selbst diziplinarisch oder wegen Fahnenflucht rankommt. Ist der Widerstand zu gross, muss die Polizei dann entweder aufgeben oder eben mehr Personal anfordern, anstatt Wafffen gegen ansonsten friedliche Demonstranten einzusetzen.
    (Und vielleicht mal in der Hierachie nach oben fragen, wer Ihnen derartige Aufgaben gibt, falls
    nicht das Söldnerdenken schon alles zerfressen hat)
    Martin

  5. als Werbelink war das nicht gedacht. aber gut.

    …und anscheinend ist das so, dass man seine Meinung nicht mehr zeigen kann. Es bleibt uns wohl übrig anonym und versteckt Artikel zu verfassen und hoffen dass sie gelesen werden – nicht das der Polizei zuhause dann mit nem kübel wasser vor der tür steht. 🙂

  6. Ah, OK, sorry dann, man wird etwas empfindlich, wenn am Tag zigdutzende Spam-Kommentare aufschlagen und irgendwelche Gewerbeseiten ohne irgendeinen sichtbaren Bezug zur kommentierenden Person als Link gesetzt werden (vgl. http://www.svenscholz.de/index.php/an-die-per-hand-kommentarspammer/ )

    Bevor ich anonym schreiben muss würde ich wohl auswandern, denn wenn ich nicht mehr meine Meinung so sagen könnte, dass ich mit Namen und Gesicht dahinter stehen kann, wäre ich im falschen Land…

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