Auf der Autobahn hatte ich irgendwann mal genug vom fünften Mal Timbaland und der ständigen Wiederholung der schlimmsten Weihnachts-Popstümpereien der 80-er und schaltete auf Deutschlandfunk.
Dort dachte ich erst, in eine Vorlesung über Literaturgeschichte geraten zu sein, um dann schallend lachend jeden weiteren Satz, den ich da zu hören bekam, laut zu beklatschen, der mir da entgegenschallte. Schallend lachend ab dem Moment, an dem mir klar wurde, in welchem Rahmen und wem gegenüber diese Rede da gehalten wurde.
Denn wie sich zu Beginn des zweiten Teils (s. Zitate unten) herausstellte, wurde die Rede des Trägers des thüringischen Literaturpreises, die ein gewisser Ingo Schulze am 4. November vor der dort versammelten Mannschaft hielt, in voller Länge ausgestrahlt.
Der mir erst etwas dröge erschienene Vorlesungspart des Beginns der Rede, in der Schulze die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der berühmten „Italienreisenden“ Goethe und Seums und deren ökonomische Abhängigkeiten und Verwicklungen in den feudalen Deutsch-ländern ihrer Zeit beleuchtete, gewann plötzlich ungeahnte Aktualität und Brisanz, als Schulze plötzlich Dinge zu sagen wusste wie:
[…] Meine erste Reaktion: Ich fragte mich, warum das Land Thüringen in seinem Kulturhaushalt nicht monatlich 250 Euro beiseite legt, um dann aller zwei Jahre einen Literaturpreis zu vergeben. Wir machen ein Geschenk, wenn es andere bezahlen.
Als ich die Dokumentation des ersten Thüringer Literaturpreises erhielt, sah ich mir zuerst die Fotos an. Die Urkunde von Sigrid Damm trägt als Briefkopf eben jenes E.ON Thüringer Energie – Logo. Sowohl an dem Rednerpult wie an der Fahne prangte das E.ON-Logo, so dass jemand, der nicht eingeweiht ist, meinen könnte, hier wird ein Betriebspreis in Thüringen vergeben.
In mir erwachte sofort der Anzeigenblattverleger, der ich über zweieinhalb Jahre gewesen war. Sollte ich mir nicht diesen Werbeplatz beim nächsten Thüringer Literaturpreis sichern und dafür meine 6000 steuerfreien Euro verzinst verwenden? Ich gewönne die Aufmerksamkeit von vielen wichtigen Leuten, zum Beispiel die des thüringischen Kultusministers und wenn ich mal ein Anliegen hätte, dann würde mich der Herr Minister bereits kennen und wissen, ich hab schon was für die Kultur getan. […]
um aus der persönlichen Situation heraus ein allgemeineres Bild zu zeichnen, das deutlich die Zustände beschreibt, die mir auch täglich aufstoßen:
[…] Was mich als Bürger dieses Landes, der seit 1990 noch keine Wahl versäumt hat, irritiert, ist eine Entwicklung in allen Bereichen unserer Gesellschaft, die uns zunehmend auf solche verantwortungsvollen Chefs angewiesen sein lässt. Die Tendenz zur Refeudalisierung des Kulturbetriebes geht einher mit einer allgemeinen Privatisierung und damit Ökonomisierung aller Lebensbereiche, des Gesundheitswesens, der Bildung, des Sports, des Verkehrssystems, der Wohnungswirtschaft, der Energiewirtschaft bis dahin, dass private Firmen Polizeiaufgaben übernehmen. Ich fürchte, dass es nur noch ein kleiner Schritt sein wird, bis auch im Auftrag Deutschlands private Militärfirmen zum Einsatz kommen. […]
und er wird dabei auch mal richtig bissig:
[…] Mich stört, dass wir dabei sind, das aufzugeben, was in einem langen Prozess erkämpft worden ist, nämlich dass der demokratische Staat seine Verantwortung wahrnimmt, nicht nur für die Künste. Mich stört, dass es kaum noch einen Ausstellungskatalog gibt ohne das Logo oder den Namen einer Firma, beinah jedes Festival oder Gastspiel gibt zu Beginn die Liste seiner Sponsoren bekannt. Selbst der Empfang der deutschen Botschaft in Rom zum Tag der Einheit wurde mit dem Dank an eine Autofirma eröffnet, deren Produkte wie Karyatiden den Eingang schmückten. Sie alle kennen Beispiele aus ihrem Alltag. Diese Refeudalisierung ist bereits zur Selbstverständlichkeit verkommen. Deshalb könnte man meinen, die Zustände in vielen deutschen Alters- und Pflegeheimen sind deshalb so erschreckend, weil es den Verantwortlichen nicht gelungen ist, Sponsoren zu aufzutreiben. […]
und überlegt
[…] Das heißt, mich stört, dass ich über E.ON nachdenken muss, wenn ich den Thüringer Literaturpreis annehmen will.
Und natürlich muss ich mir Fragen gefallen lassen. Denn wie dem Energie Informationsdienst Nr. 34 diesen Jahres zu entnehmen ist, visiert E.ON trotz des milden Winters ein Ergebnis von 9 Milliarden Euro für 2007 an. Der bereinigte Konzernüberschuss legte für das erste Halbjahr um 9 Prozent, von 2,8 Milliarden auf 3,1 Milliarden zu. Wie könnte ich mich zu einem Werbeträger eines Unternehmens machen, dessen Chef trotz dieser Ergebnisse höhere Strompreise fordert und dieser allgemeinen Forderung dann auch konkrete Erhöhungen folgen lässt, auch in Thüringen. Ist das heute jetzt und hier der richtige Platz, um meinem Preisgeldgeber sein Streben nach Maximalprofit vorzuwerfen. Soll ich sagen, wer solche Gewinne einfährt, darf die Preise nicht erhöhen?
Wie gesagt, mein Zwiespalt ist seit jenem Anruf von Wulf Kirsten nicht geringer geworden. […]
Eine sehr grandiose Rede mit noch einer überraschenden Pointe am Ende. Achso, und wer nicht soviel lesen will kann sich die Rede auch anhören (mp3, ca. 1,5MB)
Hey, ist ja cool, daß das Teil online ist!
Ich fand die Einleitung mit Goethe und Konsorten übrigens alles andere als dröge, sondern dachte mir schon beim Hören, daß sich eigentlich gar nicht sooo viel geändert hat seit derenTagen, so ganz grundsätzlich (homo sapiens bleibt halt homo sapiens) 😉
Schulzes Schlußfolgerungen indessen sind einfach brilliant. Anhören, echt! 🙂
Die Einleitung musste sein – denn wenn er gleich in media res gegangen wäre, hätte es einen Eklat gegeben – zulasten Schulzes, der dann im Feuilleton als Skandalnudel verschubladisiert worden wäre. Harte Worte müssen sorgsam verpackt werden, damit sie auch die erreichen, die sie hören sollen.
Das größte Problem bei der Ver-Sponsorisierung des Kulturbetriebs sehe ich darin, dass es bald heißen könnte: „Wer zahlt, schafft an“. Ein ähnliches Problem sehe ich übrigens auch bei staatlicher Kulturförderung, weil fast alle Politiker dazu neigen, dass Geld der Steuerzahler für „ihr“ Geld und das Wohl des Gemeinwesens mit ihren politischen Interessen zu verwechseln.
Ja klar, zumal sie im Lichte des SPäteren ja dann auch seine Drögheit verliert und „rückwirkend“ an Aktualität und Brisanz gewinnt, indem sie zeigt, dass, wer aus der Geschichte nicht lernt, verdammt dazu ist, sie zu wiederholen.