Ich bin männlich, weiß, habe einen Job, der mich – knapp, aber immerhin noch – in die Mittelklasse der Gesellschaft verortet und mir damit mehr Teilhabemöglichkeiten an der Welt bietet als sie Menschen haben, die weniger Geld als ich zur Verfügung haben, wie hochwertige Technik für meine Hobbies und für mein Selbstverständnis, Musiker zu sein (Nein, wie 98% aller anderen Musiker kann ich davon nicht leben) oder hin und wieder zu verreisen, ich habe keine sogenannte Behinderung (die Notwendigkeit, eine Brille zu tragen zähle ich da nicht) und ich bin so hetero, wie man es nur sein kann (daran ändert auch nicht, dass es Männer gibt, die ich tatsächlich auch „sexy“ oder „erotisch“ finde).
Das bedeutet, ich bin durch meine „Normalität“ in fast jedem Bereich sehr privilegiert gegenüber so ziemlich jeder Minderheit, weil ich in fast jedem Bereich des Lebens dort, wo ich lebe, Teil der Mehrheitsgesellschaft bin. Und selbst dort, wo es keine Mehrheit gibt – z.B. in meinem Geschlecht, denn es gibt ein klitzekleines bisschen mehr Frauen als Männer – bin ich privilegiert, weil mich traditionell in meiner Heimat-Gesellschaft existierende männliche Privilegien und Stereotypen nach wie vor in der Regel Frauen gegenüber deutlich besser stellen.
Das Problem bei „ererbten“ Privilegien ist, dass man sie als davon Bevorzugter sehr schwer erkennen kann. Deshalb bin ich sehr vorsichtig damit, Menschen, die einer oder mehreren Minderheiten angehören abzusprechen, ein Problem zu haben. Im Zweifel (also wenn ich – wieder einmal – mit einer Diskriminierung oder einer Folge einer solchen konfrontiert werde, die ich noch nicht kannte) glaube ich der/demjenigen deshalb gefälligst einfach mal. Jens hatte da schon vor einiger Zeit einen guten Artikel dazu geschrieben, so dass ich das im Detail nicht wiederholen muss sondern darauf verweisen kann.
Ich hinterfrage meine Privilegien nicht, weil (wie man mir schon zu entsprechenden Gelegenheiten versuchte vorzuwerfen) ich mich gerne als „weißer Ritter“ geriere oder weil ich denke, ich sei besser als andere. Oder, in die andere Richtung, hätte eine Art „schlechtes Gewissen“, was zu einer Art Selbstbestrafung führte.
Ich hinterfrage sie, weil ich eine ziemlich genaue Vorstellung habe von der Welt, in der ich leben will und diese Vorstellung berücksichtigt viele meiner Freundinnen und Freunde und die Lebensumstände, in denen diese leben dürfen sollten, sowie deren tatsächliche Lebensrealität, die bei einigen noch immer weit entfernt ist von der meinen.
Jetzt hat – im Land, in dem mehr Menschen von kleinen Kindern erschossen werden als von Terroristen, weil sie überall Waffen rumliegen haben – ein homophober Täter rund Fünfzig Menschen getötet und ebensoviele verletzt. Und überall auf der Welt, auch hierzulande, wird diese Tat verurteilt und schlimm gefunden. Und das ja auch zu Recht, denn so etwas sollte nicht passieren. Nicht in einer pluralistischen, weltoffenen, friedliebenden und empathischen Gesellschaft, wie ich und viele andere sie sich wünschen. Und man sagt mir, ich sei angegriffen worden, meine Welt sei angegriffen worden.
I beg to differ!
Nein, diese Tat ist kein „Angriff auf unsere offene Gesellschaft“.
Gefühlt mindestens zwei Drittel der Reaktionen behaupten, dass sie das sei. Das sehe ich anders: Sie ist im Gegenteil ein klarer Hinweis darauf, dass „unsere Gesellschaft“ eben (noch) lange nicht so offen und pluralistisch und friedliebend ist, wie ich sie mir wünschte. Gerade in Sachen LGBT+ ist die „offene Gesellschaft“ nach wie vor ein Traum, schlechtestenfalls Illusion, bestenfalls ein Ziel. Aber keine Realität, weder in Amiland noch hier.
Sie zeigt, dass es in „unserer“ Gesellschaft immer noch Menschen gibt, die nicht dazu gehören und sich Diskriminierung, Hass und Angriffen ausgesetzt sehen, weil sie nicht der Mehrheitsnorm entsprechen. Weil sie einfach nur sind, wie sie sind. Und Ängste und Hass kulminieren dann leider oft in Gewalt.
Nein, diese Tat ist kein Angriff „auf uns und unsere Werte“.
Denn zu viele, die sich hier gestern sehr schnell in ein „Wir“ und „Unser“ subsummierten und sich als Angegriffene fühlen (wollen), waren und sind nicht gemeint. Sie sind nicht einmal bedroht, nicht theoretisch und auch nicht einmal ganz praktisch, denn viele von diesen Leuten, die sich hier zu den Angegriffenen zählen wollen, würden nie in eine LGBT+ Bar oder einen sonstigen Ort gehen, an dem sich LGBT+ Menschen treffen.
Nein, diese Tat ist kein hübsch exotischer „islamistischer Terror“ von außen. Sie ist Hass von innen.
Viele derer, die sich jetzt so gerne mit zu den Angegriffenen zählen würden sind mit dafür verantwortlich, dass es spezielle Orte für LGBT+ Menschen geben muss, weil sie sich woanders nicht sicher fühlen oder woanders nicht erwünscht sind oder sich woanders verstellen müssen und deshalb spezielle Orte brauchen, an denen sie einfach mal nur sie selbst sein können. Sie verweigern z.B. die Gesetze, die gleiche Rechte für alle Menschen, ohne Ansehen der Geschlechtsidentität, festschreiben würden.
Und manche, und das sind leider nicht wenige, wollen LGBT+ Menschen weiterhin diskriminieren dürfen und jeden Fortschritt, der zu Gunsten LGTB Menschen über die letzten Jahrzehnte mühsam erzielt wurde, am liebsten wieder zurücknehmen. Grundsätzliche Rechte, die für jede_n Bürger_in und jeden Menschen, solange sie/er zur Mehrheitsnorm gehört, selbstverständlich sind.
Sie gehen dafür zu Hunderten oder gar Tausenden demonstrieren, sie schreiben es in Parteiprogramme und sie fordern es in Parlamenten.
Sie verunglimpfen LGBT+ Menschen, sie schreiben Hass- und Drohkommentare in sozialen Medien und unter News-Seiten, sie bedrohen LGBT+ Menschen direkt und manche attackieren sie auch physisch. Ständig. Überall.
Es sind Christen, Atheisten, Moslems, Heiden, Hindus, Buddhisten. Es sind Mütter, Väter, Kinder, Singles, Kinderlose. Männer, Frauen. Es sind Menschen, die so ziemlich jede Partei wählen, auch wenn die Verteilung in diesem Punkt ungleich verteilt ist und es Parteien gibt, bei denen es wahrscheinlicher ist, solche Menschen anzutreffen als bei anderen.
Und nicht wenige von ihnen applaudierten dem Täter, der nicht aus irgendeinem Ausland eingeflogen wurde sondern nicht weniger Amerikaner war wie seine Opfer, insgeheim oder ganz offen.
Dass es in Orlando ein Moslem war ist mehr oder weniger Zufall. Hätte der Zufall anders herum entschieden und der Täter von Orlando wäre abgefangen worden und der Typ auf dem Weg nach LA hätte es geschafft, sein Waffenarsenal auf der LA Pride einzusetzen, wie hätten dann die Schlagzeilen gelautet?
Denn dann wäre das einfache Bild vom aggressiven Moslem, der nicht mit „unseren Werten“ klar kommt, komplett futsch. Was es aber eigentlich sowieso ist, weil der Hintergrund des Täters eben nicht so schön Hollywood-Schwarz-Weiß zu sein scheint, wie es zunächst dargestellt wurde, sondern – wie Realität nun mal ist – sehr komplex ist. Wie das bei echten Menschen so ist. Aber das überrascht letztendlich sowieso nur die, die Schwarz-Weiß-Bilder brauchen, um die Welt zu verstehen. Und nicht einmal die, weil die sowas sowieso komplett ignorieren.
Nicht zufällig aber war der Ort und die Opfer.
Diese Tat ist ein Verbrechen aus Hass gegen LGBT+ Menschen.
Und sollte deshalb auch genau so genannt/beschrieben werden. Ich kann Owen Jones sehr gut verstehen, dass er eine Diskussionsrunde bei SKY News wütend vorzeitig verließ, als man ihm immer wieder über den Mund fuhr und versuchte, ihn zu silencen und diese Tat unbedingt von der Identität der Opfer zu lösen versuchte.
Selbst die, die wie ich nicht zu diesen weiter oben beschriebenen Menschen gehören sondern zu denen, die LGBT+ Menschen nicht diskriminiert sehen wollen, die ihnen gleiche Rechte zugestehen wollen, die ihnen gegenüber nicht privilegiert sein wollen, aber es sind, selbst die waren hier nicht gemeint.
Nicht ich wurde angegriffen bei dieser Tat in Orlando. Nicht ich werde angegriffen von den Leuten, die in Stuttgart auf die Straße gehen und LGBT+ Menschen als Perverse und Kinderschänder verunglimpfen. Nicht ich werde angegriffen von Menschen, die LGBT+ Menschen anspucken, beschimpfen, verprügeln oder töten, weil sie anders sind als – ich.
Es wurden LGBT+ Menschen angegriffen. Ausschließlich. Und sie wurden und werden angegriffen, weil sie sind was und wie sie sind. Ständig. Überall auf der Welt. Mag sein, dass woanders noch mehr als hier, aber das ist kein Argument und ändert nichts an den hiesigen Angriffen. Oder welchen in den USA.
Es hätte nicht „jeden“ treffen können, weil nicht jeder LGBT+ ist. Es hätte nicht „genauso gut ein Kaufhaus oder eine U-Bahn Station“ sein können, weil die treibende Kraft Hass auf LGBT+ war und somit auch der Ort, ein safe place für LGBT+ Menschen, ein Ort, an dem sich LGBT+ Menschen treffen und unter sich sind, kein zufälliger war sondern gerade deshalb genau dieser Ort ausgewählt wurde, sonst wäre der Täter nicht 100 Kilometer weit gefahren, um genau dort hin zu gehen. Genauso, wie der Mensch aus Indiana, der nach LA fuhr um mutmaßlich dort Amok zu laufen.
Dass so viele Menschen auf einmal getötet werden konnten hat auch einen Grund, der aber überhaupt nichts direkt mit dem Täter und seinen Motiven zu tun hat.
In den USA kann sich mehr oder weniger jeder Zivilist und im Vergleich zum Rest der Welt (zumindest dort, wo grad kein (Bürger)Krieg herrscht) völlig aufwandslos Kriegswaffen kaufen. Wie blöd kann man sein. Aber auch diese Waffengesetze sind nicht der Grund für diese Tat. „Nur“ der Grund, warum sie so viele Opfer zur Folge haben konnte. Damit ist dieser Aspekt dann aber auch zur Gänze abgehakt.
Es wird besser?
Als ich gestern angefangen habe, diesen Artikel zu schreiben, hatte ich nur das Video von Owens Protest im SKY-Interview und eine Menge Artikel und Videos, in denen die Natur des Schauplatzes zwar erwähnt wurde, aber bei der Frage nach Motiv und Ziel schnell verallgemeinert wurde. Ich hatte das Gefühl, man war irgendwie „froh“, dass der Täter Moslem war und man dadurch auf das „Die Moslems mögen unsere westlichen Werte“-Narrativ zurückgreifen konnte. Herr Drumpf gratulierte sich dafür, in Moslems die Wurzel allen Übels ausgemacht zu haben und allüberall wurde „unsere weltoffene Gesellschaft“ angegriffen, ohne die Lebenssituation der tatsächlich angegriffenen innerhalb dieser Gesellschaft im geringsten zu reflektieren.
Über die Zeit bis heute hat sich das zumindest ein bisschen geändert. Es gibt entsprechende Kommentare bei der Süddeutschen, und auch bei der TAZ. Und sogar im Springer-Blatt WELT gibt einen entsprechenden Artikel (den ich trotzdem nicht verlinke, wer ihn lesen will findet den schon). Und ich gehe als Berufsoptimist davon aus, dass ich noch ein paar schlicht nicht gesehen habe. National wie international.
Es wird besser.
Das Schlusswort überlasse ich oben erwähntem Owen Jones. Der in diesem Video für den Guardian erklärt, warum die Hater verlieren werden. Immer.
Und all meinen lieben LGBT+ Freunden möchte ich sagen: Ich bin glücklich, mit euch befreundet sein zu sein und stolz auf euch!
BE PRIDE!
„We’re trying to have a civilized conversation!“
Habe ich das richtig gehört?
O.o
Ja, im Rahmen von „mansplaining“ bekommen sowas eigentlich eher Frauen von Männern zu hören. Sorum muss man das wohl „heteroplaining“ nennen.