Schuld f. Mhd. schulde, schult, ahd. sculd(a), as. skuld aus germ. *skuldi- f. ‚Schuld’, auch in anord. skyld, ae. scyld, afr. skelde.Verbalabstraktum zu dem in ‚sollen’ vorliegenden Verb.
Kluge, Etymologisches Wörterbuch d. dt. Sprache. Berlin, New York 1989
sollen Prät.Präs. Mhd. suln, soln, ahd. (3.Sg.) skal, as. scalaus germ. *skal Prät.Präs. (3.Sg.) ‚schulden, sollen’, auch in got. skal, anord. skal, ae. sceal, afr. skel, skil. Die Ausgangsbedeutung ist ‚schulden’. Die Bedeutung von ‚schulden’ hält sich in der Kaufmannssprache noch lange; auf ihr beruht kaufmännisches ‚Soll’ in der Buchhaltung. Weitere Herkunft unklar.
Kluge, Etymologisches Wörterbuch d. dt. Sprache. Berlin, New York 1989
Das Funktionieren von Gesellschaften und deren Kontrolle beruht auf Normen. Am besten auf Normen, die “internalisiert” sind, also nicht mehr als Normen zur freien Wahl erkennbar sind, sondern als Programm übernommen, “verinnerlicht” sind und bei Bedarf abgerufen und in die Tat umgesetzt werden – ganz von alleine.
Die Eckpfeiler für diese Normen und Handlungsmuster bilden Kategorien – die die Struktur für sogenannte “Werte” einer Gesellschaft vorgibt. Da nun aber “Wert” inzwischen schon selbst eine Kategorie unserer derzeitigen Gesellschaft ist (was zugegeben geschickt ist, denn damit wird der Inhalt durch die Form geschützt), die mit der Assoziation von Gut und Böse verknüpft ist, wird es immens schwer, Werte wertfrei zu betrachten.
Darum nähere ich mich diesem Feld – Strukturbedingt – vom Bereich der Kategorien her. Ich verstehe diesen Begriff hier so, dass eine Kategorie die Basis, das Gerüst ist, das durch seine Strukturvorgabe bestimmt, wie die mit einer Gesellschaft verknüpften Wertmaßstäbe aussehen.
Kategorien sind sozusagen die Übereinkunft über die “Form” des Maßes – der Urmeter, ohne den davon abgeleitete relative Angaben wie “groß” oder “klein” im Wortsinne “wertlos” blieben.
Im Kategoriensystem sieht das so aus, dass ich ohne eine Kategorie “Gut” bzw. “Böse” Dinge die jemand tut nicht bewerten kann und ohne diesen Wert kann ich damit keine Reaktion des Umfeldes (im Kategoriesystem unserer Betrachtung: Sanktionen, Strafe, Belohnung) ableiten. Ein mir bekanntes Wertesystem überrascht mich also im besten Falle nicht sondern bietet mir Handlungssicherheit und Berechenbarkeit z.B. von Konsequenzen.
Eine Betrachtung des aktuellen, internalisierten, Kategoriensystems soll hier auch dabei helfen, eine freie Wahl möglich zu haben: wenn ich nicht weiß wo ich bin kann ich auch keine Richtungsbestimmung und –änderung vornehmen, geschweige mich bewegen – oder in freier Entscheidung auch stehen bleiben.
Schuld nun ist ein Kategorienkomplex, der wie kein anderer in unserer heutigen Gesellschaft, und damit auch in uns, in internalisierter Form, verwurzelt ist und vielfältige Handlungsmuster und Denkschablonen vorgibt.
Dumm nur, dass dieser Komplex zu den Kontrollinstanzen und nicht etwa zu Problem- geschweige denn Konfliktlösungsmustern zählt. Das System der Schuld in der heutigen Form dient einzig dazu, zu verhindern.
Es verhindert Selbstreflexion. Es verhindert Lösungen. Es verhindert bewusstes Denken. Es hält klein und dumm. Es hält unter Kontrolle.
Die Frage “wer ist daran schuld” hat noch nie zu Lösungen geführt, nur solche aufgehalten, denn an konstruktive Strategien kann man sich innerhalb dieses Kategoriensystems erst setzen, wenn die sogenannte Schuldfrage geklärt ist.
Verflixt dabei ist auch, dass, da es sich um ein Handlungsmuster handelt, diese Schuldfrage eng mit Strategien der Verantwortungsverdrängung verknüpft ist:
Schuld ist man niemals selbst. Immer andere, oder, wenn man sonst nichts findet, die ominösen “Umstände”, die “Situation” (oder das Wetter, schwarzmagische Angriffe, die Christen, die Erziehung, die Gesellschaft) – sogar das System “Schuld” selbst.
Das ist das schöne und verführerische an diesem System: bei geschickter Anwendung verspricht es dem Benutzer völlige Handlungsfreiheit, selbst entgegen gängiger Werte und ethischer Vorstellungen, bei gleichzeitiger Unabhängigkeit gegenüber jeglicher persönlicher Verantwortung.
Ein paradiesischer Zustand. Die Unschuld, bevor diese dumme Geschichte mit dem Baum der Erkenntnis passierte. Der Preis ist der Lohn: ich gebe meine Eigenverantwortung ab.
Kommen wir nun zu den Nachteilen dieses Systems – es gibt da nämlich dummerweise ein paar.
Zur Erinnerung: Dieses System dient mitnichten als Problemlösungsstrategie oder Erkenntnisweg – im Gegenteil: das Versprechen, sich in einen paradiesischen Unschuldszustand zu begeben hat nur einen Zweck: Kontrolle über die Person, die diesen Zustand erreichen möchte.
Jemand, der immer jemanden oder etwas findet, das “schuld” ist an den Dingen, die eigentlich in dessen Verantwortung stehen, muss nicht mehr reflektieren. Nicht mehr lernen.
Fehler, an denen andere oder “die Umstände” schuld sind, dienen somit nicht länger zur Reflexion, die solche Fehler in Erfahrungen umzuwandeln im Stande wäre.
Dummerweise haben es “ungelöste” Fehler so an sich, dass man sie wiederholt, und jedes Mal ein wenig heftiger – und man hat nunmehr zwei Möglichkeiten, jedes mal, wenn man diesen Fehler begeht – natürlich mit der Fehlergröße entsprechender Heftigkeit, vor allem, wenn es sich um Wiederholungen handelt:
- Begreifen, welche Ursache der Fehler tatsächlich hatte und damit für eine Handlungsalternative sorgen – mit dem Risiko, dass auch diese Alternative ein Fehlerrisiko, das man noch nicht kennt, verbirgt. Das nennt man dann Verantwortung übernehmen.
- Einen Schuldigen suchen, mit dem beruhigenden Gefühl, sich nicht auf Unbekanntes einlassen zu müssen und gewohnte Pfade nicht zu verlassen – Unbekannt bedeutet immer Risiko und gewohnte Handlungsmuster bieten Sicherheit.
Übrigens: begreift man diese Reaktion auf einen Fehler selbst als einen Fehler, dann gilt die Sache mit der Wiederholung, dem Steigern, dem Verdrängen und wieder steigern und noch anstrengender Verdrängen hier natürlich auch…
Nun erzähle ich die ganze Zeit, dass diese zweite Reaktionsmöglichkeit keine Lösungsstrategie ist. Das will ich nun auch noch kurz belegen.
Das Problem, die Schuldfrage aufzustellen liegt nämlich darin, dass man nicht nur mit dem Finger von sich weg sondern auch noch woanders hin zeigen muss: ein Schuldiger außerhalb der eigenen Person muss her. Und das bedeutet immer eines: die eigene Scham, die eigene Verletzung, die man sich beigebracht hat, die irgendwo doch im Hinterkopf nagende Erkenntnis, das so gern “schlechtes Gewissen” genannt wird, muss woanders hin.
Das bedeutet: ich muss, um unschuldig sein zu können, die Verletzung jemandem anderen beibringen. Jemandem Schuld einreden. Jemandes Gewissen ansprechen, auf dass dieser sich schuldig fühlt, die Schuld übernimmt, sich schämt.
Aber wozu gibt es Freunde – oder man macht sich halt schnell mal einen Feind, dann helfen einem Freunde sogar noch dabei, diese Mechanismen umzusetzen, denn die wollen ja auch nicht schuld sein, und wenn nur daran, dass sich ein Freund schlecht fühlt.
Da die Natur der Schuld eine Internalisierung ist, ist sie immer etwas höchst persönliches. Lösungen, Ausgleiche, Korrekturen betreffen aber nun mal immer Dinge, Sachen, Umstände – Schuld auf einer sachlichen Ebene gibt es deshalb nicht.
Um die Schuldfrage dennoch stellen zu können, muss deshalb jegliche Sachform vermieden werden und die Dinge, der Fehler, das Problem auf eine persönliche Ebene gebracht werden – nur dort kann man die Sache verdrängen und die Schuld zuweisen. Dann ist das Ganze eben ein “persönlicher Streit” oder “Beleidigungen” oder ähnliches – und das Problem der Verantwortung für eine Sache ist gelöst – keine Sache, keine Verantwortung.
Eine Gesellschaft, die auf einen solchen Mechanismus aufbaut löst freilich keine Probleme mehr, keine Aufgaben – denn die Aufgabe ist gelöst: es ist ein Schuldiger gefunden, mehr braucht es nicht. Keine Alternativen. Kein Lernen. Kein Denken. Kein Hinterfragen der Normen. Die Eckwerte der Gesellschaft in Form seiner Normen und Werte sind absolut sicher.
Und zu mehr ist dieser Kategorienkomplex auch gar nicht gedacht: er dient zur Sicherung der Normen und Regeln. Deshalb ist die Folge der Schuldfrage auch niemals eine Problemlösung oder ein Ausgleich sondern immer eine einseitige Sanktion, eine Strafe – eben das klassische Mittel, eine Norm durchzusetzen.
Da hat sie sich verraten, die Schuld.
Selbst Schuld.
Wie gut dieses System funktioniert kann man mühelos um sich herum feststellen, sei es in der Politik, die sich seit Jahren mit Hilfe der Schuldfrage um sämtliche Probleme bzw. deren Lösungen zu drücken vermag, über die Wirtschaft, die mit Hilfe dieses Systems sich nach und nach jeglicher Verantwortung gegenüber Arbeitern, Angestellten, Volkswirtschaft usw. entledigen, dem normalen Bürger, der sich so unter dem Vorwand falsch verstandener “Eigenverantwortung” von jeglichem Solidaritätsgefühl befreien kann bis hin zu den Kindern, die schon früh lernen, dass “aber doch der andere das-und-das (auch) gemacht” habe.
Wer anfängt, darauf zu achten ob und wo die Schuldfrage gestellt wird feststellen, dass dies allgegenwärtig ist, im Privatleben, auf der Arbeit, die Zeitungen und Nachrichten, die voll davon sind, Kinder, Eltern, Oma, Opa – alle weisen Schuld woanders hin zu und von sich weg und winden und drehen sich, nur um keine Verantwortung übernehmen zu müssen – und um niemals zu wissen, was Freiheit ist.
Ein mächtiges Instrument unserer westlichen Zivilisation. Man könnte meinen man müsse ein Übermensch sein, um sich gegen so was behaupten zu können. Bis man es mal tut. Und plötzlich wird der Riese zum Zwerg.
Zum Schluss noch ein paar Sätze, wahllos hingerotzt – vielleicht ertappt man sich selbst mal bei der Verwendung eines solchen Fragmentes.
Wenn ja, sollte man sich einmal einfach fragen, ob man den Satz wirklich zu Ende sprechen will, den man da angefangen hat, reflektieren, ob man tatsächlich von Verantwortung spricht oder gerade in die Schuldfalle getappt ist. Internalisierung funktioniert nur solange, solange man sich der Natur der Norm nicht bewusst ist – bzw. nicht bewusst ist, dass sein Handeln nicht auf freiem Willen sondern auf dem Handlungsmuster einer Norm beruht.
Freiheit bedeutet, sich der Natur einer Norm bewusst zu sein, und sich bewusst dafür oder für eine Alternative zu entscheiden (einfach “dagegen” reicht da nämlich nicht, um vom Kategoriensystem unabhängig zu sein) – jedes Mal aufs neue. In eigener Verantwortung.
“Da bin ich nicht schuld …”
“Da ist [name oder umstand einsetzen] schuld!”
“Das ist dumm gelaufen, aber das war…”
“Da kann ich nichts dafür, das ist …”
“Aber der [name oder umstand einsetzen] hat…”
“OK, ich hab einen Fehler gemacht, aber eigentlich…”
“Ich wollte eigentlich …”
“Aber ich meinte es doch gut…”
“Wenn [name oder umstand einsetzen] nicht wäre, dann…”
usw.
Und wer mir jetzt kommt mit “Wusste ichs doch: die Christen sind schuld, dass ich so blöde Handlungsmechanismen habe” sollte sich den Artikel ganz entspannt nochmal von vorn durchlesen…
Diesen Text schrob ich 2003, wiederveröffentlicht 2008, nachdem das alte Blog mal kaputt gegangen ist.